Die Kunst des Zeitverplemperns

 


Die Kunst des Zeitverplemperns

 Auf einmal bin ich alt. Jetzt. Hier. Heute. Ich will ja nicht sagen: wo ist die Zeit geblieben? Ja, aber wo ist sie denn geblieben? Was ist das überhaupt: Zeit?  Kann ich nicht greifen, steht nie still, ist vergänglich, nur ein Gedanke. Denkt ein Baum etwa an Zeit? Oder ein Tier? Sie wachsen, gedeihen, vergehen. Nur Menschen denken in Zeit.

 Gerade habe ich eine Ohrfeige gekriegt, gerade meinen ersten Kuss. Gerade mein Abitur gemacht, gerade erst die erste Schlagzeugstunde gehabt. Hierhin gezogen, dorthin gezogen, mein erster Mittelaltermarkt. Gerade dachte ich noch, ist Vierzig nicht langsam zu alt für die Bühne? Und dann doch noch die Bühne und immer wieder die Bühne. Der Tod meiner Mutter nach langer Krankheit, mein Rippenbruch, und eben noch ein Fotoshooting mit meiner Band Underdog Diva. Gerade noch den Urlaub geplant. Und dann ist mein Bruder im falschen Moment am falschen Ort...

 Jetzt sitze ich hier und mein Bruder ist tot und ich denke über das Leben nach. Ausgebremst, depressiv verstimmt. Kein Wunder! Und ich kann nichts machen, als zweidrei Stunden irgendwas, dann lege ich mich nieder, Löcher in die Luft, ins Smartphone starren, leichte Lektüre, alles vergessen. Und doch immer wieder brutal die Erkenntnis: mein Bruder ist tot und ich kann mich nicht vor dem Schmerz verstecken, kann nicht mehr zurück in der Zeit. Wollte ich ihm noch etwas gesagt haben? Vorbei! Vorbei! Das war’s!

Einundsechzig und was hab ich erreicht? Ich kann und will nicht klagen, und wer bestimmt, was Erfolg ist und warum muss ein Mensch das haben?

 Zu Beginn meines Tages sitze ich oft zum Schreiben im Garten und seit neuestem döst mir gegenüber in einem Katzenkörbchen die immer gescheckte Katze und akzeptiert meine Gegenwart. Schaut kurz herüber, räkelt sich und schläft weiter. Denkt sie darüber nach, ob sie Zeit verplempert?  Im Gegenteil! Sie lehrt mich die Kunst des Zeitverschwendens. Was muss ich im Leben denn erreichen? Habe ich wenigstens ausreichend geliebt? Aber selbst diese Frage ist überflüssig. Falls ich nicht ausreichend geliebt haben sollte, sitze ich jetzt trotzdem hier im stillen Einverständnis mit der Katze. Jetzt und hier und in Ruhe.

 Ist das Leben schön?

 In einem Vortrag sagte Vera Birkenbihl, wenn jemand Ihnen an den Karren fährt, und Sie nur noch ein halbes Jahr zu leben hätten, wäre der Schaden dann noch wichtig? Und wenn der andere nur noch vier Wochen zu leben hätte, wie sähe es dann aus?  

 Was würde ich tun, wenn ich nur noch ein halbes Jahr zu leben hätte? Jetzt weiß ich es: ich würde genüsslich meine Zeit verplempern! Ohne Angst und Sorge der Zeit beim Verstreichen zuschauen. Tage vergehen und ich bin nur entspannt, die Seele in der Hängematte. 
 
  Ja aber, ja aber! Was für ein Egoismus! 
Einmal im Leben darf ich endlich so richtig egoistisch sein! Fast jeder hat zurzeit Verständnis, wenn ich gerade nicht kann, weil ich geschockt und in Trauer bin. Was für ein interessanter Zustand! Ein Zustand auf den ich im Austausch gegen das Leben meines Bruders gerne verzichten könnte. Aber nun, wo es nunmal so ist, kann ich den Zustand auch in Ruhe betrachten und meine Zeit zumindest genüßlich verplempern durch bloßes Sein. 
 Ich bin und mein Bernhard Bruderherz ist nicht mehr. Zumindest nicht in dieser Dimension. Ich kann ihn nicht mehr anrufen, nie mehr sehen, ihn nie mehr in die Arme nehmen. 

 Also, Leute, ruft Eure Lieben an! Sprecht mit ihnen, umarmt sie! Wir wissen doch nicht, wer von uns morgen noch lebt! Macht was Schönes, löst die Probleme, seid lieb zueinander und lasst Euch auch mal in Ruhe. Mehr kann ich nicht sagen.

 Zeit zu verplempern ist Luxus pur. Allein und mit anderen. Was sonst  braucht es um glücklich zu sein? Alles andere ist Zugabe. Das Leben ist kurz und manchmal noch kürzer.

 Vielleicht klingt das alles banal. Egal! Die Qual lass ich so gut es geht los und bin bloß noch da. Dankbar für alles was mir gegeben ist. Auch für die Zeit, die mir als Erinnerung bleibt an einen Menschen den ich liebe, nicht nur weil er mein Bruder war, ist und immer sein wird, solange ich lebe. Amen.

Zeit verplempern
Zeit zerklempnern
Zeit pelmplemmen
Zeit zerrennen
Zeit zerrinnen
Lassen 

Nicht zu fassen
Nicht zufassen
Geronnene Zeit
Gewonnene Zeit
Verloren
Verwalten, gestalten
Aus- und inne- und haushalten
Veralten
Merken, spüren
Verführen zum Atmen
 
Jeder Atem ein Zug
Ist Zeit Betrug?
Wozu bin ich hier?
Bin doch gleich wieder fort!
Es bleibt mir nichts
Als das Nuntun am Ort
 
Unerbittlich, ungehetzt
Verjetzt sie uns stets
Die Zeit 

Oh Zeit!
Zeig mir
Im Fluss den Genuss
Den Genuss im Fluss
Bis zum Schluss
Zeig!

 

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